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Seit Jahrzehnten wurde die sexuelle Gesundheit von Frauen in der medizinischen Forschung ignoriert. Während Männer seit den 1990er Jahren mit Pillen wie Sildenafil (Viagra) behandelt werden konnten, blieb Frauen mit niedrigem sexuellem Verlangen fast nichts als Ratlosigkeit. Bis 2015. Dann kam Flibanserin - das erste und bis heute einzige zugelassene Medikament, das speziell auf die biologischen Grundlagen des weiblichen Begehrens abzielt. Es ist kein Wundermittel. Aber es ist ein Signal: Endlich wird erkannt, dass Frauen nicht einfach Männer mit anderen Hormonen sind.

Was ist Flibanserin wirklich?

Flibanserin, vermarktet unter dem Namen Addyi, ist kein Hormon. Es wirkt nicht wie Viagra, das den Blutfluss in den Genitalien steigert. Stattdessen greift es direkt in das Gehirn ein - genauer gesagt, in die Neurotransmitter, die für sexuelles Begehren verantwortlich sind. Es erhöht die Aktivität von Dopamin und Noradrenalin, die das Begehren fördern, und senkt die Wirkung von Serotonin, das es hemmt. Diese Balance ist entscheidend. Bei Frauen mit hypoaktiver Sexualbegehrensstörung (HSDD) ist dieses Gleichgewicht gestört - nicht wegen Stress, Beziehungsproblemen oder Alter, sondern oft wegen einer biologischen Ursache, die lange ignoriert wurde.

Die FDA in den USA genehmigte Flibanserin 2015 nach jahrelanger Kontroverse. Die Kritiker sagten: Es sei nur leicht wirksam. Die Befürworter antworteten: Es ist das erste, was überhaupt funktioniert. Und das ist der Punkt. Vor Flibanserin gab es keine zugelassenen Medikamente für Frauen mit chronischem Verlust des sexuellen Interesses. Keine. Nichts. Während Männer seit 1998 mit einer Pille ihren Blutfluss verbessern konnten, mussten Frauen mit Beratung, Selbsthilfebüchern oder einfach nur mit dem Gefühl, etwas mit ihnen sei falsch, leben.

Die Geschlechterkluft in der Forschung

Die medizinische Forschung hat jahrzehntelang Männer als Standard betrachtet. Klinische Studien wurden überwiegend an Männern durchgeführt. Frauen wurden oft ausgeschlossen - wegen Hormonzyklen, Schwangerschaftsrisiken oder einfach weil man dachte, ihre Reaktionen seien „komplexer“. Das Ergebnis? Medikamente, die bei Männern gut wirken, wurden einfach auf Frauen übertragen - mit katastrophalen Folgen. Einige Medikamente wirkten gar nicht, andere hatten unerwartete Nebenwirkungen. Und sexuelles Begehren? Ein Tabu-Thema. Kein Forschungsgeld. Keine Studien. Keine Daten.

Flibanserin hat das verändert. Es war das erste Medikament, das speziell für Frauen entwickelt wurde - mit einer Studienpopulation, die zu 98 % aus Frauen bestand. Die Forscher fragten nicht: „Wie reagieren Frauen auf ein männliches Medikament?“, sondern: „Wie funktioniert Begehren bei Frauen?“ Sie kartierten Gehirnregionen, analysierten Neurotransmitter und fanden heraus, dass das Verlangen bei Frauen nicht nur hormonell, sondern neurologisch gesteuert wird. Und das ist kein kleiner Fortschritt - das ist eine Revolution.

Gegensatz zwischen alter, männlich dominiertes Forschung und moderner, frauenzentrierter medizinischer Forschung.

Wie wirkt Flibanserin wirklich - und wer profitiert?

Studien zeigen: Frauen, die Flibanserin einnehmen, berichten durchschnittlich 1,5 bis 2 zusätzliche „erfüllte sexuelle Ereignisse“ pro Monat im Vergleich zu Placebo. Klingt wenig? Vielleicht. Aber denken Sie an die Qualität. Es geht nicht um Häufigkeit. Es geht darum, dass das Interesse zurückkommt - nicht weil jemand „es sich wünscht“, sondern weil das Gehirn wieder signalisiert: „Das ist wichtig.“

Nicht jede Frau profitiert. Flibanserin ist nur für postmenopausale und prämenopausale Frauen zugelassen, die unter einer diagnostizierten HSDD leiden - also einem anhaltenden, belastenden Mangel an sexuellem Interesse, der nicht durch andere Faktoren wie Depression, Medikamente oder Beziehungsprobleme erklärt werden kann. Es wird täglich eingenommen, nicht „nach Bedarf“. Und es hat Nebenwirkungen: Schwindel, Übelkeit, Müdigkeit - besonders in den ersten Wochen. Deshalb wird es nur verschrieben, wenn der Arzt sicher ist, dass es die richtige Wahl ist.

Ein wichtiger Punkt: Flibanserin wirkt nicht sofort. Es braucht 4 bis 8 Wochen, bis der Effekt eintritt. Und es muss mit Alkohol vermieden werden - das Risiko von niedrigem Blutdruck und Ohnmacht ist zu hoch. Diese Regeln sind streng, aber sie sind notwendig. Es ist kein Freizeitdrogen. Es ist ein Medikament, das eine komplexe neurologische Störung behandelt.

Warum Flibanserin mehr als ein Medikament ist

Flibanserin ist kein Wunder. Aber es ist ein Symbol. Es sagt: Frauen haben ein Recht auf sexuelle Gesundheit - und diese Gesundheit ist nicht nur eine Frage von Hormonen oder Beziehungen. Sie ist eine Frage von Neurobiologie. Und diese Neurobiologie ist genauso real wie die von Männern.

Seit Flibanserin zugelassen wurde, hat sich die Forschung verändert. Mehr Studien untersuchen die weibliche Sexualität. Mehr Geld fließt in die Erforschung von Neurotransmittern, Gehirnscans und Hormon-Neuro-Interaktionen bei Frauen. Pharmaunternehmen, die vorher nur an männlicher Erektionsdysfunktion interessiert waren, beginnen jetzt, nach Lösungen für andere weibliche sexuelle Störungen zu suchen - wie Schmerzen beim Sex oder Orgasmusstörungen.

Und das ist der wirkliche Durchbruch. Flibanserin hat nicht nur ein Medikament hervorgebracht. Es hat ein System herausgefordert. Es hat gezeigt: Wenn man Frauen in die Forschung einbezieht, wenn man ihre Symptome ernst nimmt, wenn man ihre Biologie nicht als „kompliziert“ abtut - dann passiert Fortschritt. Und dieser Fortschritt ist nicht nur medizinisch. Er ist sozial. Er sagt Frauen: Dein Verlangen ist nicht verrückt. Es ist biologisch. Und es ist behandelbar.

Frauen in einem beruhigenden Raum, die Flibanserin halten, während ihre Gehirne biologisch in Balance kommen.

Was kommt als Nächstes?

Flibanserin ist nicht das Ende. Es ist der Anfang. In der Forschung arbeiten Wissenschaftler bereits an neuen Wirkstoffen, die noch gezielter wirken - zum Beispiel durch die Modulation von Oxytocin oder Endocannabinoiden. Andere Ansätze kombinieren Medikamente mit digitaler Therapie - Apps, die das sexuelle Verhalten tracken und kognitive Verhaltenstherapie unterstützen. Einige Studien testen sogar die Wirkung von Mikrodosen von Psychedelika wie Psilocybin auf das sexuelle Begehren - eine völlig neue Richtung.

Die Zukunft der sexuellen Gesundheit bei Frauen wird nicht von einem einzigen Medikament bestimmt. Sie wird von einem Paradigmenwechsel bestimmt: weg von der Annahme, dass Frauen „nur“ psychologisch oder relational betroffen sind, hin zu einer ganzheitlichen, biologisch fundierten Sichtweise. Flibanserin hat diesen Wechsel eingeleitet. Es hat gezeigt, dass man nicht nur „das Problem“ der Frauen ignorieren kann - und dass man, wenn man es ernst nimmt, Lösungen finden kann.

Was Frauen jetzt tun können

Wenn Sie unter anhaltendem Verlust des sexuellen Interesses leiden - und das ist mehr als nur „keine Lust“ - sprechen Sie mit Ihrem Arzt. Fragen Sie nach HSDD. Bringen Sie Ihre Symptome konkret auf den Punkt: Wie lange dauert es schon? Hat sich etwas verändert? Haben Sie andere Ursachen ausgeschlossen? Bringen Sie ein Tagebuch mit - wie oft hatten Sie Interesse? Was hat es blockiert? Das ist kein Tabu. Das ist Medizin.

Flibanserin ist nicht für alle. Aber es ist für viele. Und es ist ein Beweis: Die Medizin hört endlich zu. Die Geschlechterkluft wird nicht über Nacht geschlossen. Aber sie wird geschlossen. Und Flibanserin ist ein wichtiger Stein in diesem Mauerwerk.

Ist Flibanserin ein Hormon?

Nein, Flibanserin ist kein Hormon. Es wirkt nicht auf Östrogen, Progesteron oder Testosteron. Stattdessen verändert es die Aktivität von Neurotransmittern im Gehirn - vor allem Dopamin, Noradrenalin und Serotonin - und beeinflusst so das sexuelle Begehren auf neurologischer Ebene.

Kann man Flibanserin mit Alkohol nehmen?

Nein, das ist streng verboten. Die Kombination aus Flibanserin und Alkohol kann zu starkem Blutdruckabfall, Schwindel und sogar Ohnmacht führen. Die Behörden verlangen ein striktes Alkoholverbot während der Einnahme - auch nur ein Glas Wein kann das Risiko erhöhen.

Wie lange dauert es, bis Flibanserin wirkt?

Es braucht mindestens 4 Wochen, oft 6 bis 8 Wochen, bis der Effekt spürbar wird. Es ist kein schnelles Medikament. Es arbeitet langsam an der neurologischen Grundlage des Begehrens. Wer nach einer Woche aufgibt, wird den Nutzen nie erfahren.

Ist Flibanserin für jede Frau geeignet?

Nein. Es ist nur für Frauen mit diagnostizierter hypoaktiver Sexualbegehrensstörung (HSDD) zugelassen - also einem anhaltenden, belastenden Verlust des Interesses, der nicht durch andere Ursachen wie Depression, Medikamente oder Beziehungsprobleme erklärt werden kann. Es wird nicht bei Frauen mit Leberproblemen, Bluthochdruck oder bestimmten Medikamenten verschrieben.

Warum wurde Flibanserin so lange nicht zugelassen?

Weil die Forschung zu weiblicher Sexualität jahrzehntelang vernachlässigt wurde. Die FDA lehnte Flibanserin 2010 ab, weil die Wirksamkeit als gering angesehen wurde - und weil die Nebenwirkungen als unverhältnismäßig galten. Erst nach massivem Druck von Frauenorganisationen und neuen Studien, die die subjektive Lebensqualität stärker berücksichtigten, wurde es 2015 zugelassen. Es war ein politischer und gesellschaftlicher Prozess - nicht nur ein medizinischer.

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6 Kommentare

  1. Marion Fabian

    Flibanserin ist so ein komisches Ding – kein Hormon, aber es verändert dein Gehirn wie ein kleiner Neuro-Regler. Ich hab’s ausprobiert, nach 6 Wochen war’s wie ein Licht, das angeht. Nicht wie ‘oh mein Gott, ich will Sex’, sondern ‘ach, das wäre doch nicht schlecht’. Und das zählt. Endlich mal was, das nicht nur ‘sei entspannter’ sagt.

  2. Astrid Segers-Røinaas

    WIE KANN MAN DAS NUR ERWÄHLEN?! WIR SIND JAHRELANG MIT ‘DAS IST NUR STRESS’ ABGESPEIST WURDEN, WÄHREND MÄNNER IHRE PILLEN HABEN! JETZT KOMMT DAS? NACH 20 JAHREN?! ICH HABE EINE FREUNDIN, DIE 12 JAHRE LANG GELEIDET HAT, WEIL SIE GEMEINT HAT, SIE IST ‘ZU KALT’ – UND JETZT? EINE PILLE, DIE IHR GEBRAUCHT WIRD?! DAS IST EIN SKANDAL, KEIN FORTSCHRITT!

  3. Alexander Monk

    Das ist wieder typisch westlicher Feminismus: Frauen kriegen ein Medikament, das kaum wirkt, und alle feiern es als Revolution. Wo bleibt die Forschung für Männer mit Orgasmusstörungen? Oder für Frauen, die unter Schmerzen leiden? Nein, wir brauchen nur ein neues ‘weibliches Viagra’ – damit die Gleichberechtigung im Bett endlich perfekt ist. Lachhaft.

  4. Timo Kasper

    Ich finde es bewundernswert, dass endlich wissenschaftlich anerkannt wird, dass weibliches Begehren nicht nur hormonell, sondern neurologisch verankert ist. Als Arzt habe ich viele Patientinnen gesehen, die sich schuldig fühlten, weil sie ‘nichts fühlen’. Flibanserin gibt ihnen nicht nur eine Option – es gibt ihnen eine Erklärung. Und das ist manchmal schon die größte Heilung.

  5. Sonja Villar

    Ich find’s mega wichtig, dass das jetzt diskutiert wird… aber… halt… hat jemand mal dran gedacht, dass viele Frauen, die ‘kein Verlangen’ haben, einfach nur total erschöpft sind? Von Kindern, Arbeit, Hausarbeit, emotionaler Last? Flibanserin hilft nicht, wenn du jeden Tag 18 Stunden am Stück durchläufst… das ist kein neurologisches Problem, das ist ein Systemproblem…

  6. Greta Weishaupt

    Die Schreibweise ‘Flibanserin’ ist korrekt, aber im Text steht mehrfach ‘Addyi’ – das ist der Markenname, nicht der Wirkstoff. Bitte konsistent bleiben. Außerdem: ‘hypoaktive Sexualbegehrensstörung’ ist korrekt, aber in der Medizin sagt man meist ‘HSDD’ – das ist akzeptiert und kürzer. Nur zur Info.

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